In dieser Feldforschungsgeschichte setze ich mich mit der Frage auseinander, wie ich engagierte Forschung betreiben und meine Forschungsteilnehmenden im Kampf gegen Ungerechtigkeiten unterstützen kann, ohne sie dabei zu gefährden. Anhand einer auf dem Feld erlebten Situation diskutiere ich meine Handlungsoptionen und mögliche Konsequenzen. 

Sprachliche Unterstützung  eines Forschungsteilnehmers beim Verfassen einer Beschwerde © Anonyme Ethnografin

Der Beschwerdebrief

Während meiner Feldforschung in der Tourismusindustrie wurde ich einmal von einem Forschungsteilnehmer um Hilfe gebeten – ich nenne ihn hier Valerio. Valerio hatte während der Hochsaison viele unbezahlte Überstunden leisten müssen und fühlte sich (zurecht) ausgebeutet. Darüber hatte er sich auch schon mündlich bei seiner direkten Vorgesetzten beschwert – die ich Stefania nenne. Er forderte einen Ausgleich sowie eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Stefania hatte ihn angewiesen, diese Beschwerde noch einmal schriftlich bei der Unternehmensleitung einzureichen, damit seine Forderungen diskutiert werden konnten. Valerio arbeitete im Kundenmanagement und sprach täglich vier Sprachen. Er beherrschte die offizielle Unternehmenssprache fließend, hatte jedoch im Schriftlichen weniger ausgeprägte Kompetenzen und außerdem Schwierigkeiten mit dem Stil, den der Beschwerdebrief erforderte. Aufgrund seiner Legasthenie war er sich zudem in schriftlichen Kommunikationssituationen generell etwas unsicher. Er befand sich also in einer klassischen Gatekeeping-Situation, in der Sprache den Zugang zu bestimmten Rechten oder Privilegien reguliert, und benötigte zur Stärkung seiner Handlungsfähigkeit sprachliche Unterstützung (Moyer, 2013). Dessen war er sich auch bewusst, und so bat er mich, ihm beim Verfassen des Beschwerdebriefs zu helfen. Dies tat ich schließlich auch. Ich passte seinen Briefentwurf formal und sprachlich an das spezifische Textgenre eines Beschwerdeschreibens an. Außerdem recherchierte ich Hintergrundinformationen zum herrschenden Arbeitsrecht, um seiner Argumentation noch mehr Gewicht zu verleihen. Und tatsächlich war Valerio mit seiner Beschwerde erfolgreich und konnte einen gewissen Ausgleich für die geleistete Mehrarbeit und eine Verbesserung seiner Arbeitsbedingungen aushandeln, auch wenn diese letztendlich nicht ganz den von ihm gestellten Forderungen entsprachen. Der Brief hatte seiner Beschwerde Nachdruck verliehen und sein Anliegen war ernst genommen worden.

Diese sprachliche Hilfestellung für meinen Forschungsteilnehmer mag meinen Leser*innen und mir heute als eine ganz selbstverständliche Geste erscheinen. Doch so selbstverständlich war sie für mich in diesem Moment überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Auf Valerios Bitte hin zögerte ich zunächst und fragte mich, ob dies wirklich der beste Weg sei, ihm zu helfen, und ob meine Hilfe vielleicht auch negative Konsequenzen haben könnte. Doch weshalb hatte ich diese Zweifel? Was waren meine Bedenken? Im Folgenden werde ich meine Gedankengänge zu möglichen Handlungsoptionen und ihren Konsequenzen nachzeichnen und erklären, weshalb sich diese auf den ersten Blick vielleicht als banal erscheinende Situation für mich zunächst wie ein Dilemma anfühlte.

Unschlüssigkeit: Sollte ich ihm heimlich helfen oder mich besser offiziell einschalten?

Als mich Valerio um Hilfe bat, erinnerte ich mich, dass in der Literatur im Hinblick auf die Beziehung zu Forschungsteilnehmenden und möglichen Interventionen im Feld drei Ansätze unterschieden werden: Demnach kann entweder zu einer bestimmten Gruppe von Personen geforscht werden, wobei die Forschenden die Beforschten durch die Forschung nicht gefährden sollen, sich sonst aber auch aus ihren Anliegen raushalten. Dann kann für diese Personen geforscht werden, wobei die Forschenden ihr Wissen nutzen, um für die Anliegen dieser Personen einzutreten. Und schließlich kann auch mit ihnen geforscht werden, wobei die Teilnehmer*innen durch die Forschenden und ihre Erkenntnisse in ihrem Kampf gegen Ungerechtigkeiten bestärkt werden sollen (Cameron et al., 1997). Ich fragte mich, welchem dieser Ansätze sich meine Forschung eigentlich verschrieb und welche Art der Hilfe dementsprechend die Angemessenste sei. 

Tatsächlich stand es für mich nicht in Frage, ob ich Valerio überhaupt helfen sollte. Ich verspürte sogar ein tiefes Bedürfnis, ihn zu unterstützen, denn ich konnte die Gründe für seine Beschwerde absolut nachempfinden. Außerdem fühlte ich mich ihm freundschaftlich verpflichtet. Im Laufe meiner Feldforschung hatte ich Valerio besser kennenlernen dürfen und eine Freundschaft zu ihm entwickelt. Auch hatte ich das Gefühl, ihm in meiner Rolle als Forschende etwas schuldig zu sein, denn er hatte mich bei meiner Forschung besonders unterstützt. Zudem konnte es sein, dass ich durch meine kritischen Fragen zu den Arbeitsbedingungen in der Tourismusindustrie zu Valerios Unzufriedenheit mit seiner Situation und zu seiner Auflehnung dagegen beigetragen hatte. Darüber hinaus ist es das Ziel kritisch-ethnografischer soziolinguistischer Forschung, die Rolle von Sprache bei der Entstehung und Reproduktion sozialer Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zu verstehen, dafür zu sensibilisieren und Veränderungen anzustoßen. Valerios Fall stellte eigentlich ein Paradebeispiel für solch eine Ungleichheit im Zusammenhang mit Sprache dar, bei der ich mich nicht einfach raushalten wollte. 

Ich überlegte deshalb, ob ich ihn lediglich beim Schreiben des Briefs unterstützen sollte oder ob ich nicht auch mehr für ihn tun könnte. Ich zog kurz in Erwägung, ihm anzubieten, mich offiziell als Vermittlerin zwischen ihm und seinen Arbeitgeber*innen einzuschalten. Ich hatte einen guten Draht zu Stefania und hätte meinen Expertinnenstatus nutzen können, um als Fürsprecherin für Valerios Anliegen einzutreten. Allerdings sorgte ich mich darum, dass meine Hilfe verschiedene negative Konsequenzen haben könnte. 

Tatsächlich befürchtete ich, dass Valerio in Schwierigkeiten geraten könnte, wenn Stefania und die Unternehmensleitung erfahren würden, dass er mir über die in seinen Augen ausbeuterischen Arbeitsbedingungen erzählt hatte. Die Mitarbeitenden waren zwar von Stefania angewiesen worden, mich bei meiner Forschung zu unterstützen und mir Einblicke in den Unternehmensalltag zu gewähren. Doch musste ich bedenken, dass es unter Umständen Firmeninterna gab, die für das Unternehmen rufschädigend sein könnten, wenn sie bekannt würden, und welche deshalb aus Sicht der Unternehmensleitung nicht für die Ohren der Forschenden bestimmt waren. Das Weitererzählen solcher sensiblen Firmeninterna hätte unter Umständen Sanktionen bis hin zum Jobverlust für Valerio bedeuten können. Ein offizielles Einschreiten kam für mich also auch nicht in Frage. 

Darüber hinaus hatte ich den Eindruck, dass ich Valerio durch meine Vermittlung sogar entmündigen könnte, da ich ihm somit die Fähigkeit abgesprochen hätte, für sich selbst zu sprechen. Valerio schien auch keine Fürsprecherin zu brauchen. Er wusste genau, dass ihm die sprachlichen Fähigkeiten fehlten, um seinen Standpunkt in einer adäquaten Form mittels des Beschwerdebriefs vorzubringen. Und er wusste, dass er sich mit meiner Hilfe beim Verfassen des Briefs selbst befähigen konnte, seiner Stimme Gehör zu verschaffen und sich zu wehren. Ich beschloss also, ihm beim Schreiben des Briefs zu helfen. 

Doch um ehrlich zu sein, sorgte ich mich nicht nur um Valerio. Ich befürchtete auch, dass es Stefania gar nicht gefallen würde und sie sich von mir hintergangen fühlen könnte, wenn sie erfahren würde, dass ich Valerio beim Verfassen des Beschwerdebriefs geholfen hatte. Schließlich hatte ich Stefania den Zugang zum Unternehmen zu verdanken und sie vertraute darauf, dass meine Forschung sowohl ihr als auch dem Unternehmen keine Nachteile einbringen würde. Ich wollte meine gute Beziehung zu Stefania nicht zerstören und riskieren, dass sie in der Folge vielleicht unsere Zusammenarbeit beenden könnte. Da ich den Forschungsteilnehmenden immer die Option gebe, jederzeit von der Forschungsteilnahme zurückzutreten, befürchtete ich, dass Stefania mir rückwirkend die Erlaubnis entziehen könnte, die bereits produzierten Daten zu verwenden. Ich hatte also Angst, dass monatelange Feldforschung umsonst gewesen sein könnte (d.h. viel Arbeit und Geld, das ich privat in dieses Projekt gesteckt hatte, weil ich keine Forschungsfinanzierung hatte). Durch meine eigene prekäre Arbeitsbedingung als Ethnografin fühlte auch ich mich in einer vulnerablen Position. Deshalb bat ich Valerio, niemandem von meiner Hilfe beim Verfassen des Briefs zu erzählen. Auf diese Weise konnte ich ihm helfen, ohne ihm oder mir zu schaden.

Epilog

Während dieser Überlegungen wurde mir klar, dass ich mich keinem der oben erwähnten Ansätze vollständig verschreibe. Sie lassen sich in der Praxis nicht so trennscharf unterscheiden und auch nicht vorher auswählen, da die Situationen, denen man auf dem Feld begegnet, nicht voraussehbar sind. Folglich sollte situativ entschieden werden, was jeweils die beste Hilfe für die betroffenen Forschungsteilnehmenden ist.  

Durch die Reflexion meines Zauderns in dieser Situation wurde mir auch bewusst, dass ich als Ethnografin nie nur eine neutrale Beobachterin, sondern immer irgendwie in das Feld involviert bin, und zwar in vielfältiger Weise. Während der Feldforschung gehe ich multiple und komplexe Beziehungen mit verschiedenen Personen ein, wobei es auch zu Spannungen zwischen meinen Verantwortlichkeiten gegenüber den beteiligten Personen und Institutionen bzw. ihren Interessen kommen kann (Can, 2020). Darüber hinaus kann meine Anwesenheit im Feld auch bestimmte Prozesse der Bewusstwerdung in Gang setzen und Unzufriedenheit oder Protestaktionen bei den Forschungsteilnehmer*innen auslösen (Murphy & Dingwall, 2007: 340). Die tatsächlichen Auswirkungen meiner Forschung sind aber nur schwer abschätzbar. Um potenzielle Gefahren für die Teilnehmer*innen vorauszusehen, spekuliere ich deshalb immer viel über mögliche Konsequenzen meines Handelns. Ich bin auch der Meinung, dass solche Spekulationen notwendig sind. Allerdings können all diese Bedenken auch blockierend wirken, wenn eigentlich Handlungsbedarf besteht. Meine Feldforschungsgeschichte verdeutlicht, wie stark Forschende manchmal von solchen Bedenken bezüglich deontologischer Prinzipien und der Angst um die Forschungsteilnehmenden (oder auch um sich selbst) eingenommen sein können, und wie schnell dann das Anliegen, zu helfen, zu einem Dilemma wird. Als mich Valerio um Hilfe bat, kreisten all meine Gedanken nur darum, inwiefern meine Hilfe vielleicht ihn – oder auch mich – in Gefahr bringen könnte. Dabei hätte ich beinahe das Wesentliche aus den Augen verloren, nämlich dass ich den größten Schaden für Valerio angerichtet hätte, wenn ich mich einfach rausgehalten hätte. Wichtig ist, in solchen Spannungssituationen den Grundsatz ethnografischer Forschung nicht zu vergessen: Als höchste Priorität, den Forschungsteilnehmenden nicht zu schaden (Murphy & Dingwall, 2007), und ganz besonders die Sicherheit der Vulnerabelsten unter ihnen zu wahren, selbst wenn dies bedeutet, dass keine weiteren Daten produziert oder bereits erhobene Daten nicht mehr genutzt werden können. Forschung darf nicht um jeden Preis betrieben werden. 

Tatsächlich verzichtete ich nach diesem Erlebnis in einer anderen Institution auch einmal zum Schutz der Forschungsteilnehmenden auf die Erhebung weiterer Daten. Ich hatte dort zwar von der Unternehmensleitung die Erlaubnis, die Belegschaft in ihrem Arbeitsalltag zu begleiten. Als ich jedoch merkte, dass eine Managerin dies nicht gerne sah und diejenigen zu bestrafen drohte, die mit mir sprachen, brach ich die Zusammenarbeit ab. Aber das ist eine andere Geschichte…

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    Anonyme Ethnografin

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  • Publié 2022-01-17
  • Comment citer cet article

    Anonyme Ethnografin, 2022. Engagierte Forschung: Helfen, ohne zu schaden!?. Chroniques du terrain [en ligne]. Disponible à l’adresse URL: https://www.chroniquesduterrain.org/partager/engagierte-forschung

  • Références
    • References
      • Cameron, D.; Frazer, E.; Harvey, P.; Rampton, B. & Richardson, K. (1997). Ethics, Advocacy and Empowerment in Researching Language. In Coupland, N. & Jaworski, A. (Hgg.), Sociolinguistics: A Reader and Coursebook (S. 145–162)London: Palgrave (Modern Linguistics Series).
      • Can, B. (2020). Researchers’ Vulnerability: The Politics of Research in Official Clinical Settings in Turkey. American Anthropologist122(2), 383–386.

      • Moyer, M. G. (2013). Language as a Resource. Migrant Agency, Positioning and Resistance in a Health Care Clinic. In Duchêne, A. ; Moyer, M. G. & Roberts, C. (Hgg.), Language, Migration and Social Inequalities: A Critical Sociolinguistic Perspective on Institutions and Work (S. 196–224). Bristol: Multilingual Matters (Language, Mobility and Institutions).

      • Murphy, E. & Dingwall, R. (2001). The Ethics of Ethnography. In Atkinson, P.; Coffey, A.; Delamont, S.; Lofland, J. & Lofland, L. (Hgg.), Handbook of Ethnography (S. 339–351). Thousand Oaks: SAGE (Paperback Version 2007).